Wenn du dir aus diesem Text nur fünf Worte einprägen möchtest, dann bitte diese: Ihr werdet einander nie verstehen! Und ihr tut gut daran, es gar nicht erst zu versuchen.

Wenn es um unseren Zugang zur Welt geht, dann ist Verstehen-Wollen eigentlich eine prima Sache. Die großen Geister haben sich schon immer von ihren großen Fragen leiten lassen. Und die Königin dieser Fragen war seit jeher die Warum-Frage. Sie hilft uns, Zusammenhänge zu erfassen, dem Dasein auf den Grund zu gehen und die Herausforderungen der Zukunft zu bestehen. Warum-Fragen zeichnen den Menschen als Menschen aus und machen das Leben lebenswerter.

Allein im zwischenmenschlichen Bereich scheinen andere Gesetze zu gelten. Wann hast du das letzte Mal jemanden gefragt, warum er*sie etwas gesagt, getan, gefühlt hat? Und hast du eine Antwort bekommen, mit der du etwas anfangen konntest? Wohl kaum.

Aber woran liegt das? 

Das Problem mit den Warum-Fragen

Die meisten von uns fühlen sich unwohl, wenn ihnen Warum-Fragen gestellt werden.

Warum bloß?

Konditionierung! Wir haben im Laufe unseres Lebens einfach zu oft die Erfahrung gemacht, dass sich hinter einer vermeintlichen Verständnisfrage eigentlich ein Vorwurf versteckt hat. Besonders hart hat es uns getroffen, wenn solche Fragen von einer Autorität gestellt wurden, der wir uns ausgeliefert wussten: einem Elternteil, einer Lehrkraft, dem*der Vorgesetzten, dem Finanzamt:

  • Warum hast du das gemacht?
  • Warum hörst du nie zu?
  • Warum hast du deine Hausaufgaben nicht gemacht?
  • Warum haben Sie die Unterlagen noch nicht eingereicht?

Überforderung! Wir sind intellektuell überfordert, wenn es darum geht, zu ergründen, warum wie dieses oder jenes fühlen, denken, sagen oder tun! Erst recht, wenn wir unsere Erkenntnisse dann noch verständlich in Worte fassen sollen. Bei Lichte betrachtet, gibt es auch nicht die eine Ursache, warum wir gute Laune haben oder Lust auf Käsekuchen, warum wir ständig dieses Lied im Ohr haben, aber den Geburtstag der besten Freundin vergessen.

Es gibt auch nicht zehn oder hunderttausend Gründe, sondern unendlich viele Faktoren für alles, was in uns vorgeht. Da fahren Gefühle Achterbahn, da treffen wir Entscheidungen aus dem Bauch, da verlassen Worte unseren Mund, ohne dass wir nur einen Gedanken daran verschwenden, da ist plötzlich eine Tüte Chips aufgefuttert – warum auch immer.

Im Nachhinein basteln wir uns dann irgendwelche rationalen Begründungen, warum wir diesen einen Menschen geheiratet und diesen einen Beruf ergriffen haben. Wir legen uns auch passende Formulierungen zurecht, in der Hoffnung, dass unsere Umwelt sich damit zufrieden gibt. Das, was wir und andere für unsere Identität halten, ist bloß eine von vielen Geschichten, die wir erzählen und manchmal selbst glauben. Jenseits biografischer Eckdaten sind wir in normalen Alltagswahnsinn ganz froh, wenn uns solche kreativen Denkleistungen erspart bleiben.

Egal, wie ernst gemeint und liebevoll wir gefragt werden, warum wir beispielsweise so traurig schauen; Wir wissen erst einmal nicht, was wir darauf antworten sollen. Im besten Fall überhören wir solche Fragen, im schlimmsten Fall fangen wir an, uns zu rechtfertigen. Wie schön, wenn das Gegenüber nicht nach dem Warum fragt, sondern einfach davon ausgeht, dass man schon „gute Gründe“ haben wird.

Ok, Warum-Fragen sind also suboptimal, aber ist es nicht trotzdem ein hehres Ziel, den Partner oder die Partnerin verstehen zu wollen?

Nun, sagen wir einmal, es ist menschlich und nachvollziehbar, dass du gerne mehr über das Innenleben deines Gegenübers wüsstest. Aber das ist dein Anliegen und nicht seines*ihres. Er*sie schuldet dir keine Erklärung! Verstehen-Wollen hat nichts mit Empathie oder Liebe zu tun. Liebe heißt, einander so anzunehmen, wie man gerade „da“ ist, und füreinander da zu sein. Empathie heißt, aufmerksam wahrzunehmen, was jetzt gerade in uns oder dem*der anderen lebendig ist, und nicht, es verstehen zu wollen. Es geht nicht darum, zu wissen, was mein Gegenüber fühlt. Es geht auch nicht darum, zu fühlen, was mein Gegenüber fühlt. Es geht eher um gegenseitiges Containment, also darum, im Miteinander den Gefühlen Raum zu geben, sie zu „halten“, sanft mitzuschwingen.

Wir alle wissen, was Schmerz ist, aber mein Schmerz ist nicht dein Schmerz. Ich kann niemals wissen, wie sich etwas für dich anfühlt. Der Respekt vor unser aller Verschiedenheit und Einzigartigkeit verlangt es, das demütig anzuerkennen. 

Wir wissen verdammt wenig übereinander. Wir verstehen uns selbst kaum, geschweige denn den Menschen an unserer Seite. Selbst, wenn wir zusammen auf der Couch kuscheln und uns eine Tafel Schokolade teilen, können wir nicht sicher sein, dass wir dasselbe Geschmackserlebnis haben. Wir können nun mal nicht aus unserer Haut. Die gute Nachricht: Es spielt keine Rolle. Wir können anerkennen, dass wir verschieden sind und trotzdem (oder gerade deshalb?) gut miteinander umgehen.

Ich wünsche dir von Herzen, dass euch das gelingt! Wenn ihr euch dabei Unterstützung wünscht, könnt ihr hier mehr erfahren.

Unterschrift Michael

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